“Ein wahres Wunder”
Eine Mutter bringt ihre kranke Tochter aus Charkiw nach Bonn. Zwei Ärzte helfen der 17-Jährigen – kostenlos
VON STEFAN HERMES
Als die ersten Bomben um fünf Uhr morgens auf Charkiw fielen, war das wie ein böser Traum, sagt Alina Berestovitskaya (41). Die Ukrainerin floh aus ihrer Heimatstadt, gemeinsam mit ihrer Tochter Eva, voller Sorge um die Gesundheit der 17-Jährigen. Denn Eva litt unter Epilepsie. Sie brauchte dringend Medikamente. Und woher sollte sie die bekommen, während ringsum die russische Kriegsmaschine wütete?
Jetzt sitzt Alina mit ihrer Tochter im Foyer der Beta-Klinik am Bonner Bogen und wartet auf eine Nachuntersuchung. Von den Neurologen Professor Christian Elger und Professor Thomas Gasser ist Eva (17) dort im Juni kostenlos operiert worden. „Es gibt keine Worte auf der Welt, die mein Gefühl tiefer Dankbarkeit und Liebe ausdrücken können“, betont Berestovitskaya gegenüber dem GA (siehe Kasten). Ihrer Tochter sei ein neues Leben geschenkt worden. Schon bevor der Krieg in der Ukraine ausbrach, hatte die Wirtschaftswissenschaftlerin Berestovitskaya über den in Sankt Augustin lebenden russisch-stämmigen Dolmetscher Vadim Knirel Kontakt zu Professor Elger aufgenommen, der in einer Videochat Beratung einen Hoffnungsschimmer in das Leben von Mutter und Tochter brachte, die bis dahin zwölf Jahre auf der Suche nach einer Behandlung für Eva durch viele Länder gereist waren.
„Es gibt keine Worte auf der Welt, die mein Gefühl tiefer Dankbarkeit und Liebe ausdrücken können“
Alina Berestovitskaya
Mutter der 17-jährigen Patientin Eva
Mit acht Monaten habe Eva ihr erstes Wort gesagt und schon mit anderthalb Jahren so gut gesprochen, dass alle um sie herum gestaunt hätten, berichtet Berestovitskaya. Eva sei als fröhliches, neugieriges und freundliches Kind aufgewachsen und habe ein phänomenales Gedächtnis gehabt. Doch plötzlich, im Alter von fünf Jahren, sei Eva aus heiterem Himmel „wie ausgewechselt“ gewesen. Krämpfe, Angstzustände und Schmerzen begleiteten das Mädchen fortan. Für die Eltern geschahen „seltsame Dinge“, die für sie sehr beängstigend waren. Spezialisten konnten keine eindeutige Diagnose erstellen, man behandelte Eva gegen alle möglichen Krankheiten, so Berestovitskaya. Doch Evas Zustand verschlechterte sich zunehmend. 90 Prozent ihrer Kindheit habe ihre Tochter in Krankenhäusern oder zu Hause verbracht, berichtet ihre Mutter, die Eva ab der achten Klasse zu Hause selber unterrichtete, da Eva inzwischen unter bis zu fünfzehn epileptischen Anfällen pro Tag litt. Permanent habe Eva überwacht werden müssen und konnte nicht allein gelassen werden. Ihr Vater, ein Anwalt, verließ die Familie als Eva elf Jahre alt war. „Darum musste ich sehr hart arbeiten“, erzählt Berestovitskaya, „denn die Behandlungen und Medikamente für Eva waren sehr teuer und wir benötigten immer mehr Geld.“
Dann diagnostizierte man in der Ukraine bei Eva eine Temporallappenepilepsie. Evas Krankheit hatte einen Namen bekommen und ihre Mutter las in einer ukrainischen Gruppe von Eltern epilepsiekranker Kinder einen Mut machenden Bericht über Professor Elger. Über Knirel, der ebenfalls in dem Chat vielfach positiv erwähnt wurde, nahm sie Kontakt mit dem Bonner Professor auf. Elger stellte die Möglichkeit einer Operation für Eva in Aussicht. „Plötzlich sahen wir eine Chance aufs Leben“, berichtet Evas Mutter. „Ein Ende der völligen Isolation von der sozialen Welt und der Unfähigkeit, mit Gleichaltrigen zu kommunizieren.“ Inzwischen waren jedoch durch die Covid-Pandemie die finanziellen Mittel der Mutter, die mehrere Cafés in Charkiw betrieb, erschöpft. Doch die Operation sollte rund 70 000 Euro kosten. Knirel half Mutter und Tochter, Bittbriefe an deutsche Stiftungen zu schreiben. „Ein Herz für Kinder“ sagte 20 000 Euro zu. Doch dann begann der Krieg. Noch beängstigender als die Bombardierungen rings um sie herum war für die Mutter jedoch, dass ihrer Tochter nun die Medikamente ausgehen könnten, die sie zur Behandlung der Epilepsie benötigte.
„Wir begannen zu packen. Es war sehr beängstigend, in einer solchen Situation das Land zu verlassen. Doch Charkiw wurde Tag und Nacht bombardiert“, berichtet Alina Berestovitskaya. „Ich hatte keine Ahnung, wie wir unter den Bomben aus der Stadt herauskommen sollten, aber ich hatte keine Wahl.“ Sie habe Eva, ihre Mutter, ihren kleinen Hund, Dokumente, Medikamente und alles, was in einen kleinen Koffer passte, in ihr Auto gepackt und sich „auf den Weg aus der Hölle“ gemacht. Sie hatte Glück: nach acht Tagen und rund 3500 gefahrenen Kilometern kam sie bei einer aus der Ukraine stammenden Freundin in Dortmund an, die sie bereits bei Kriegsbeginn gebeten hatte, zu ihr zu kommen. Kurz darauf erfuhren Mutter und Tochter von Knirel, dass die anstehende Operation von seitens der Professoren kostenlos durchgeführt werden könne. „Ein wahres Wunder“, sagt Berestovitskaya. Sie habe keine Worte, um ihre Gefühle zu beschreiben.
Drei Monate nach der OP ist Evas Zustand sehr gut
Etwas mehr als drei Monate nach der von Professor Gasser durchgeführten Operation ist Evas Zustand sehr gut, sagt ihre Mutter. Eva gehe seit August auf ein Wirtschaftskolleg in Dortmund und zum ersten Mal könne sie wieder mit ihren siebzehn Jahren allein auf die Straße gehen, einkaufen oder mit Freunden ausgehen. „Das war ein großes Geschenk für uns“, sagt ihre Mutter. Jedes Mal, wenn sie Eva zur Schule gehen sehe, kämen ihr die Tränen. „Denn sie kann jetzt all das, was andere Menschen auch können“, sagt sie. „Für Ukraine-Patienten machen wir hier oft Charity“, sagt Professor Elger. Rund 40 bis 50 ukrainische Patienten sind bereits von Vadim Knirel ehrenamtlich bis hin in die Beta-Klinik begleitet worden. Bei der Operation entfernte Neurochirurg Gasser mithilfe von Lasersonden pathologisches Hirngewebe im Kopf von Eva.
Die Frage, warum die Ärzte der Beta-Klinik auf ihr Honorar verzichteten, beantwortet Elger mit einem Zitat von Nicole Kidmann: „Es spricht nichts dagegen, etwas Gutes zu tun, auch wenn keiner hinschaut.“ Er habe bisher mit den Menschen aus der Ukraine nur gute Erfahrungen gemacht.
Offener Brief
Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit
Mit einem offenen Brief für den General Anzeiger möchte sich Alina Berestovitskaya bei Professor Christian Elger „von ganzem Herzen für alles bedanken, was er für uns getan hat und bis heute tut“. Es gebe keine Worte auf der Welt, die ihr Gefühl tiefer Dankbarkeit und Liebe ausdrücken können, schreibt sie. „Auch möchte ich mich ganz herzlich bei dem Neurochirurgen Professor Dr. Gasser bedanken, der Eva operiert und uns das Unmögliche möglich gemacht hat. Vielen Dank an alle Anästhesisten und die Assistenten. Ich möchte mich ganz herzlich bei Vadim Knirel bedanken, der uns vom ersten Tag an und bis zum heutigen Tag bei all dem Papierkram, der Organisation, den Sitzungen und der Kommunikation unterstützt hat. Das ist ein Mann mit einem großen Herzen!“ Berestovitskaya möchte stellvertretend für viele Ukrainer Deutschland und dem gesamten deutschen Volk für seine Hilfe in dieser schwierigen Zeit von ganzem Herzen danken.